Lana war überrascht. So leicht und schnell ging das also.
Sie hatte sich erst gegen Mitternacht bei der großen Kunst-Community im Internet angemeldet. Sie hatte sich zuvor schnell einen Mailaccount bei einem der freien Provider besorgt, irgendeine halbwegs plausible Adresse angegeben, um die Bestätigungsmail von pseudoART bekommen und beantworten zu können. Sekunden später hatte sie sich das erste Mal angemeldet und begonnen, ihr Profil auszufüllen.
Lana gab sich Mühe. Schließlich erschuf sie gerade eine Existenz. Da musste man schon ein wenig Sorgfalt bei den Details walten lassen. Sie war knapp 20, kam aus einem Nachbarland, in dem unter anderem auch ihre Sprache gesprochen wurde, verriet noch etwas über ihren Musikgeschmack, ließ die vielen weiteren Felder des Formulars vorerst offen und wählte dann noch einen Avatar aus. Das war ein wichtiger Schritt, denn dieses kleine Profilbildchen sollte ja schon einiges ihres virtuellen Selbst symbolisieren.
Lana wollte sich gerne eine emo-artige Aura geben, suchte sich also auf den einschlägigen Seiten im Internet passende Profile und Bilder. Ihre Wahl fiel schließlich auf ein hübsches Emo-Mädchen mit langen dunklen Haaren und vollen Lippen. Perfekt.
Lana jagte das Emo-Mädchen durch einen Standard-Kunstfilter in Photoshop, um es leicht zu verfremden. Aber gerade nur so viel, dass es noch als Foto durchgehen mochte. Sie achtete darauf, alle Metadaten zu löschen, um sich nicht zu verraten: technische Angaben, Ort, Zeit, Urheberrechte. So leicht wollte sie es ihren Opfern nicht machen.
PseudoART fragte sie noch ein bisschen aus. Lana ließ ihrer Fantasie freien Lauf und antwortete willig und reichlich. Kam ja nicht darauf an. Sollte sie doch Spammails bekommen. Ihr Mailaccount war eh nur eine Art Mülleimer. Völlig egal. Sollte pseudoART ihre »Daten« doch mit anderen sogenannten sozialen Netzwerken abgleichen. Ihr war’s wurscht. Also aktivierte Lana das ganze »Sharing« und drückte auf alle Buttons zur Vernetzung mit den üblichen Verdächtigen, die sie fand. Sie wusste, dass dies im Normalfall eine lupenreine Einladung zum Bilderdiebstahl darstellte. Aber das war ihr, in diesem Fall, völlig gleichgültig.
Nach ein paar Minuten hatte sie die Aufnahmeprozedur überstanden. Die pseudoART-Lana war geboren.
»Möge die Übung gelingen«, murmelte Lana, als sie den Bereich der Hintergrundeinstellungen verließ und das erste Mal die Bühne von pseudoART betrat. Sie war quasi noch Jungfrau. Keine Bilder, keine Favoriten, keine Freunde, keine Kommentare. Aber das sollte sich bald ändern. Sie startete den Editor und schrieb ihren ersten Journaleintrag.
Er sollte kurz sein, eher nichtssagend und nur ein Element enthalten, das Neugier weckte. Eine Frage vielleicht? Genau.
Lana tippte:
»wOOt. I am sooo excited. I finally made an account here. What should I look at first?«
Lana war zufrieden. Genau der richtige Ton. Mädchenhaft, jung, emo-tional. Genau das Girlie, das sie sein wollte. Das man gern an die Hand nimmt. Dem man gerne hilft, sich in dieser bunten Glitzerwelt zurechtzufinden. Ein bisschen dumm vielleicht.
Sie vergaß natürlich auch, einen Titel einzugeben, als sie das Journal online stellte. Sie beließ es bei der Standardüberschrift. So wie Anfänger das eben machen.
Lana lächelte, kratzte sich am Sack und holte sich noch ein kaltes Bier.
Die nächste Aufgabe erforderte mindestens ebenso viel Sorgfalt wie die Wahl des Avatars. Das ID-Bild.
Lana wusste genau, wie sie sein wollte. Sexy, recht freizügig. Keine Schlampe, aber offen. Eine Suchende, noch nicht ganz fertig, irgendwo auf der Schwelle zwischen Mädchen und Frau. Mit Lust am Fotografieren. Gerne auch Film, weil cool. Allerdings total ahnungslos.
Also kämmte sie wieder die Suchmaschine nach entsprechenden Vorlagen durch. Und wurde schnell fündig. Eine junge Frau, auf dem Rücken liegend, die üppigen Brüste entlößt, von sich selbst mit einer Hand ein Foto schießend. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen, aber sie hätte gut das Mädchen vom Avatar sein können.
Das Foto zu kopieren und in Photoshop leicht zu bearbeiten, war eine Sache von Sekunden. Lana beschnitt es ein wenig, ließ erneut ihren Kunstfilter drüberlaufen, verkleínerte es und speicherte es in einem Ordner auf der Festplatte, den sie eigens für die Netz-Lana angelegt hatte. Wieder achtete sie darauf, sämtliche verräterischen Metadaten aus der Datei zu löschen. Dann lud sie das ID-Bild hoch. Nun hatte Lana ein Gesicht und einen Körper. Einen, um den sie viele Mädchen beneiden würden. Und einen, der Männer um den Verstand bringen konnte.
Sie dichtete noch eine unverfängliche Unterzeile. Obwohl die nicht wichtig war. Das Bild allein würde wirken. Sie war sicher.
Der Honigtopf war aufgestellt.
Und die Bienen ließen nicht lange auf sich warten.
Allerdings waren die nicht so niedlich. Sie kamen sie in Gestalt von Männern. Einige 30 und deutlich älter. Stoppelige Gesichter, von schräg unten mit billigen Webcams eingefangen. Lana folgte den Links ihrer Besucher, sah sich deren Seiten an. Und was sie sah, war recht eindeutig. Halbnackte Männer, Brusttoupets, halb erigierte Penisse. Die Lüsternheit in Person. Auf der Jagd. Lana war sicher: Sie rochen bestimmt auch nicht gut. Einige wenige Frauen, deren Motive für Lana nicht sofort ersichtlich waren. Wenngleich sie eine Vermutung hatte. Immerhin ist das Leben bunt und vielfältig.
»Na also, geht doch«, dachte Lana.
Und dann waren da noch die notgeilen Jungen. Ihres Alters, sozusagen. Deren Seiten bei pseudoART waren nicht ganz so ekelhaft. Aber was sie wollten, war auch bei ihnen schnell klar. Sie kamen gleich zur Sache. Allerdings nicht per öffentlichem Kommentar auf Lanas ersten Bildbeitrag, sondern in in sogenannten Notes. Privatim.
Sie waren freundlich, voll des Lobes, würdigten Lanas kreatives Talent, zeigten Interesse, hießen Lana auf pseudoART Willkommen. Fragten beiläufig, wer sie denn sei, was sie so mache, und ob sie nicht ein bisschen mehr über sich verraten wolle.
»Moment mal«, dachte sie. »Ich habe doch gerade mal EIN Bild hochgeladen..!« Lana war, genaugenommen, erst ein paar Minuten auf der Welt.
Aber Lana spielte mit. Es war ihr Spiel. Und es lief.
Während sie artig auf die ersten eingehenden Kommentare antwortete, sich höflich bedankte, massenhaft Smileys tippte und viel kicherte – :giggle: -, fing Lana an, ihre Galerie zu bestücken. Sie machte sich nicht die Mühe, eigene Bilder zu verwenden, sondern klaute sie im Internet zusammen. Das Bild einer Windmühle, das sie bei einem Ausflug aufs Land aufgenommen hatte, Fahrräder an einem Bahnhof in einer Nachbarstadt und Touristen mit Karten in ihrer Heimatstadt. Was blutige Anfänger halt so knipsen.
Auch die brachten ihr weitere Kommentare ein. Teils von den Kinderfickern und den juvenilen Wichsern, teils aber auch von ganz normalen Nutzern von pseudoART. Die taten Lana ein bisschen leid. Aber sie konnte darauf im Moment keine Rücksicht nehmen. Beifang halt.
Lana sprach eigentlich ausgezeichnet Englisch, aber nun klang sie eher so, als würde sie es im Grundkurs Oberstufe auf höchstens ein »ausreichend« bringen. Sie wollte es so. Es war Teil der sorgfältig konstruierten Legende. Also schrieb sie kurze Stammelsätze, wie es ohnehin bei pseudoART üblich war, und verbog sie stets noch ein wenig.
haha. :giggle: I believe so :wave:
Nebenbei sprang sie auf pseudoART hierhin und dorthin, begeisterte sich fröhlich, smilend und kichernd für die Kunst anderer – oder das, was sie dafür hielten. Lana war nicht wählerisch. Jedenfalls sah das so aus. Sie packte alles zu ihren Favoriten, was ihr unter die Maus kam. Blumen, Tiere, farbige Bilder und schwarz-weiße. Ab und zu mal ein Nacktfoto.
Sie machte Hinz und Kunz zu ihren Freunden. Und gelegentlich auch andere pseudoARTisten, die, nach ihren Seitenaufrufen zu urteilen, schon richtig was darstellten. Ruckzuck hatte sie einen an der Angel, der binnen eines Jahres auf beeindruckende 3.533.740 Pageviews gekommen war. Das war, selbst für pseudoART-Verhältnisse, schon ein echt dicker Brocken. Falls sie es schaffte, ihn dazu zu bringen, sie zu watchen, wäre das wie ein Sechser im Lotto. Der Schwarm würde ihm folgen. Todsicher. Lana markierte ihn als main target.
Sie webte ihr Netz, planmäßig und mit Bedacht. Denn sie vergaß nie, dass sie eine junge Frau aus Holland war, die gerade eine neue Welt entdeckte und dabei auf die Hilfe der erfahrenen Nutzer angewiesen war. Und die, nebenbei bemerkt, affentittengeil aussah und den Eindruck erweckte, als sei sie nicht eben prüde.
Der Köder schmeckte vielen, sehr vielen, nur zu gut. PseudoART war voll von Lanas. Sie hatte selten so viele armselige Nacktfotos gesehen wie hier. Da kam sie, als Frischfleisch, den Feinschmeckern hier gerade recht. Ein Filetstück.
Zwei, vielleicht drei Stunden ging das so. Im Minutentakt plumpsten die Kommentare in ihre Inbox. Lana kam teilweise schon in Schweiß. Sie hatte, kaum auf der Welt, schon etwa 10 Freunde (Watcher im pseudoART-Sprech) gewonnen. Ihre mickrigen vier geklauten Bilder waren so an die 30 mal zu Favoriten erklärt worden. Und sie ließ, dosiert, wildfremde Menschen an ihrem Leben, das es nicht gab, teilhaben. Sie teilte Gedanken, die sie nicht hatte, mit dem plebs. Sie hatte einen Heidenspaß.
Trotzdem Zeit für eine Pause. Lana entschuldigte sich bei ihren Kontakten, dass sie jetzt zur Geigenstunde müsse, sie aber abends wieder verfügbar wäre.
Sie drehte sich eine Kippe, ging aufs Klo, klappte die Brille hoch und pinkelte wie immer im Stehen.
Zeit für einen neuen Köder. Auf irgendeiner Seite im großen Netz fand sie ihr Selbstportrait. Eine Frau, die ihrer ID sehr ähnlich sah, fast nackt, aber mit BH und Höschen, halb in ein Tuch gehüllt. Ein schönes Bild von einer schönen Frau.
Lana klaute es, wählte den Rahmen in Photoshop so, dass der Kopf eben gerade angeschnitten war und sie als Person nicht zu erkennen war. Und traktierte es wiederum mit dem Malfilter. Es sollte so etwas wie ihr Stil werden.
Sie lud das Bild hoch und schrieb in der Beschreibung, es sei ja ganz nett, aber eigentlich fände sie sich viel zu fett. Und vergaß nicht, einfältig zu kichern.
Es war, als hätte man vor dem Great Barrier Reef einen Eimer Blut ins Wasser gekippt.
Die Haie schossen herbei und stürzten sich auf die vermeintliche Beute. Manche taten so, als seien sie Delfine, und tanzten imponierend auf der Schwanzflosse. Immerhin. Andere hätten Lana, wäre das möglich gewesen, auf der Stelle vernascht. Ohne Umschweife. Mit Haut und Haar. Und Möpsen.
»Faszinierend«, brummte Lana mit ihrem 52 Jahre lang trainierten Bariton. Und kicherte. Diesmal wirklich.
Dann ging sie endlich ins Bett, legte sich neben ihre friedlich schlummernde Frau und schnarchte bald hemmungslos.
Am nächsten Morgen checkte Lana ihren Account bei pseudoART.
Sie hatte inzwischen mehr als 25 Watchers, hatte über 400 Kommentare und ihre Seite mit den kümmerlichen 7 geklauten Fotos hatte es auf mehr als 230 Pageviews gebracht. Und 12 private Notes warteten auf Antwort. Gar nicht mal so schlecht für weniger als 12 Stunden. Und für ein Girl, das es gar nicht gab.
Lana lächelte, als sie unter Letzteren wieder den pseudoART-Namen des jungen Verehrers aus der Nacht zuvor entdeckte. Jedenfalls behauptete er, dass er in Italien lebe und aus Bulgarien stamme. Er schien irgendwas mit Architektur zu tun zu haben. Lana war da, aus naheliegenden Gründen, prinzipiell skeptisch.
Er hatte sie gestern schon angebaggert wie blöde.
Lana hatte sich revanchiert. Sie hatte eine beste Freundin erfunden. Die musste es sowieso geben. Irgend jemand musste ja schließlich die geilen Bilder von ihr gemacht haben. Sie taufte sie auf den Namen Sanne. Und sie lud auch ein Foto von Sanne hoch. Es war ein schönes Bild einer ansehnlichen jungen Frau. In Schwarz-Weiß. Sehr sinnlich, aber nicht »explicit«. Lana nannte das Bild einfach nur »Danach«. Es funktionierte. Natürlich.
Lanas bulgarisch-italienischer Freund biss sofort an. Er gleich wollte wissen, was »Danach« bedeute.
Und Lana brauchte nur ein bisschen zu kichern – :giggle: -, ein paar schlüpfrige Anspielungen zu machen. Sie brauchte sich nur nach und nach Details aus der Nase ziehen zu lassen, um dann – »Mein Gott, was habe ich einem Wildfremden nur anvertraut..?! Sag’s bitte, bitte nicht weiter! Das kann doch hier sonst keiner lesen, oder??« – die Einfältig-Zerknirschte zu geben. Sie brauchte nur einen Freund zu erfinden, der sozusagen just eben aus dem Foto mit Sanne gelaufen sei, um sich im Badezimmer zu reinigen und abzukühlen. Sie brauchte nur zu anzudeuten – nennen wir es beim Namen -, dass sie und Sanne dem gut bestückten Freund – »Genug für uns beide« – gemeinsam einen geblasen hätten. LOL. :giggle:
Lana konnte den armen Kerl gleichsam hecheln hören. Und sie war sicher, dass er sich in Italien gerade, eben jetzt, schwungvoll einen runterholte und wahrscheinlich fürchterlich seine Tastatur besudelte.
Lana war beeindruckt. So viel Macht mit so wenig Aufwand. Faszinierend.
Nun war er wieder da. Er konnte wahrscheinlich nicht anders. Wer konnte sich Lanas Charme schon entziehen?
Aber musste trotzdem bis zum Abend warten. Lana war müde. Und sie wollte es auch nicht übertreiben. Lana warf ihm ein paar Brocken hin, die ihn bei der Stange halten würden. Nettes Wortspiel – :giggle: .
Dann ging Lana sich rasieren und fuhr zur Arbeit. Sie lächelte während der ganzen Fahrt.
Genial!!